Mein erstes Fenster


       Mein erstes Fenster ging auf eine ruhige, verschlafene Strasse hinaus, mit dem altertumlichen Namen Podjacheskaja* (Amtschreiber Strasse). Sie verlor sich zwischen den Flussen und Kanalen des alten Petersburg und bewahrte neben dem Namen auch ihr ursprungliches Antlitz.

       Gerade an solchen Orten wandelt der Geist der Stadt.

       Wir wohnten in der Mansarde, im letzten Stock. Wenn man sich aus dem Fenster hinauslehnt und den Kopf zur Seite dreht, konnte man uber den Dachern der angrenzenden Viertel die Kuppel des Isaak Doms sehen. Der goldglanzende Orientierungspunkt war die kostbarste Eigenschaft an meinem Fenster. Jedoch wurde sie mir nicht sofort zu Eigen. Die Welt offnete sich mir allmahlich.

       Einmal, ich war sechs Jahre alt, blieb ich allein zu Hause. Als ich den Stuhl heranstellte und auf die Fensterbank geklettert war, offnete ich zum ersten Mal selbststandig das Fenster. Der Wind vom Newa-Fluss sturmte in das Zimmer und lud zum Spielen ein. Ich kletterte vom Fensterbrett, suchte eine Schere und schnitt einen Haufen kleiner Papierchen. Daraufhin schmiss ich das selbst gemachte Konfetti aus dem Fenster.

       Emporte Stimmen hinter mir beendeten meine Begeisterung. Ich drehte mich um: auf der Turschwelle standen die Nachbarn der Wohngemeinschaft und die Hauswarterin Tante Katja. Sie jagte mich auf die Strasse und zwang mich, die von der Pflasterstrasse vom Wind zerstreuten Papiere aufzusammeln. Die Bestrafung war angebracht, aber mein Leid war unermesslich. Eine bose Fee hatte meine Vogel in einen Haufen Mull verwandelt.

       Es vergingen einige Jahre. Und wieder einmal war ich allein mit meinem Fenster. Wo, wenn nicht am offenen Fenster, raucht man dann seine erste Zigarette? Ich holte die "Belomor" aus der grossvaterlichen Schachtel, zundete das Streichholz an und atmete den bittern Rauch ein. Mir wurde leicht schwindelig. Ich klammerte mich am Sims fest, vom Abgrund jedoch war der Sog spurbar. Uberaus deutlich zeichnete sich mein ausgebreiteter Korper auf dem frischen, neuen Asphalt ab. Die Auswuchse der schriftstellerischen Vorstellungskraft meldeten sich bereits.

       Bald darauf formten sich aus meinen Phantasien versponnene Geschichten. Einmal im Fenster gegenuber, hinter dem durchsichtigen Tull, bemerkte ich die Umrisse eines Junglings mit Geige. Die Seele verstorende Melodien stromten in das offene Fenster. Und sofort uber die Strasse hinweg, uber dem Abgrund, schaukelte das Luftbruckchen von einem Fenster ins andere. Ich lief auf den wackeligen Brettern dem berauschenden Klang entgegen und nicht einmal eine Tante Katja war in der Lage mich aufzuhalten.

       Ich wurde erwachsen und zog von der Strasse weg, wo mein erstes Fenster blieb. Nur die Erfahrungen daraus gingen nicht spurlos an mir vorbei. Ich werfe kein Papier auf den Boden und habe an Zigaretten das Interesse verloren. Dafur haben meine Phantasien Flugel bekommen. Sie wurden Wanderer oder Seiten* (Wortspiel); einen Unterschied gibt es zwischen ihnen nicht. Vom Nordwind ergriffen, dem ungestumen Boreus, treiben sie uber der Stadt, dem Newa-Fluss, fliegen zur Kuppel des Issak Domes hinauf. Und wahrend ich den Atem anhalte beobachte ich ihren Flug.

Die Uebersetzerin Olga Erler.